Friedrich Nietzsche

„Erst das Übermorgen gehört mir“

Heute, am 25. August 2025, jährt sich zum 125. Mal der Todestag von Friedrich Nietzsche – für mich der bedeutendste Denker, den die Welt je hervorgebracht hat. Schon dieser erste Satz verrät: ich bin eine große Nietzsche-Freundin ❤️.

Mein geliebter Friedrich war es auch, der mich ursprünglich in die Schweiz führte; zum ersten Mal im Sommer 2018. Er liebte den Ort Sils im Engadin, wo er zwischen 1881 und 1888 sieben Sommer verbrachte. „Im Engadin ist mir bei weitem am wohlsten auf Erden…“, schrieb er und nannte Sils seine „rechte Heimat und Brutstätte“.

Hier erlebte Friedrich seine intensivste Schaffenszeit. Er notierte:

„An meinem Horizonte sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehen habe… Die Intensitäten meines Gefühls machen mich schaudern und lachen – schon ein paarmal konnte ich das Zimmer nicht verlassen, aus dem lächerlichen Grunde, dass meine Augen entzündet waren – wodurch? Ich hatte jedes Mal den Tag vorher auf meinen Wanderungen zu viel geweint, und zwar nicht sentimentale Tränen, sondern Tränen des Jauchzens, … erfüllt von einem neuen Blick, den ich vor allen Menschen voraus habe.“

Sechs Sommer lang bin ich im Engadin auf seinen Spuren gewandelt, habe das Nietzsche-Haus immer wieder besucht und viel Zeit auf der Halbinsel Chasté bei seinem Denkmal verbracht, wobei ich Friedrich jedesmal mit „Hallo, mein grosser Schatz“ begrüsste. Sils ist tatsächlich ein magischer Ort, und es ist schön zu sehen, wie er dort bis heute gewürdigt wird: jeden Sommer mit der Nietzsche-Werkstatt, jeden September mit dem Nietzsche-Kolloquium.

Im Vorwort zu Der Antichrist schrieb er: „Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthum geboren.“ Er hätte es wohl nie offen gesagt, doch diese späte Anerkennung hätte ihn sicher gefreut.

Ich habe lange überlegt, welche seiner Zitate ich an diesem Todestag hier einfügen könnte. Aber ich empfinde Friedrichs Gedanken als zu kostbar, um sie aus ihrem Zusammenhang zu reissen.

Stattdessen möchte ich einige Passagen aus dem Vorwort von Rüdiger Görner zu seinem Buch Nietzsches Kunst (2000) wiedergeben, weil er dort in treffender Weise beschreibt, was das Denken Nietzsches ausmacht:

„Nietzsche“ ist noch immer der Name für eine geistige Versuchung das Unerhörte zu denken. „Nietzsche“ bedeutet, die Existenz geistig aufs Spiel zu setzen. „Nietzsche“, das meint Gedankenakrobatik ohne Netz und doppelten Boden, gleichzeitig aber Denkarbeit unter tage in den abgrundtiefen Schächten des Daseins, in den metallreichen Stollen des Lebens; was da zutage gefördert wird, Generation um Generation, seit jenem geistigen Tod in Turin, glänzt und beschwert, beschämt in seiner radikalen Substanz, befremdet nicht selten, macht fröstelnd zuweilen. 

Das Denken hatte Nietzsche zu einem vulkanischen Ereignis werden lassen, dessen Nachbeben uns weiterhin erschüttern, bewegen, abstoßen, zumindest jedoch nicht gleichgültig lassen. In Nietzsche begegnen wir einem Sprachkünstler, der im philosophischen Schrifttum nicht seines Gleichen hat, einem Künstler, trunken von Intellektualität, einem Intellektuellen, der mit Gedanken komponierte. Was er in seiner Zeit an „Gesetztem“ vorfand, „ent-setzte“ er, will sagen, durch seine Art des Denkens setzte er Prämissen und Komponenten unseres Weltverständnisses in eine ungeahnte Freiheit aus. 

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Vielleicht sollten wir neben unseren psychologisch-voyeuristischen Befunden die schlichte Einsicht stellen, dass Nietzsche einen unstillbaren Drang zu lebendiger Vergeistigung hatte, dass die Essenz seines Lebens Intellektualismus war, dass sein Hunger nach Leben stets auch eine Denkkonstruktion gewesen ist, in der er nun einmal der „Kunst“, und darauf kommt es im folgenden an, eine überragende Rolle zugewiesen hatte. Aber vielleicht übersteigt die Tiefe geistiger Liebe tatsächlich das Vorstellungsvermögen einer Zivilisation, die sich inzwischen an Lustbefriedigung qua Video und Internet gewöhnt hat. 

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Nein, mit etwas Kompensationstheorie hier und etwas Narzissmus-Analyse dort kommen wir Nietzsche nur bedingt nahe. Will sagen: Dergleichen Ansätze sind eher dazu angetan, vor der eigentlichen Herausforderung, die Nietzsches Werk darstellt, auszuweichen, seiner schieren Intellektualität nämlich, seinem Willen, das, was war, ist und sein kann, geistig zu durchdringen. Bereits bei Nietzsche findet sich, und damit ist die Hauptthese dieses Buches ausgesprochen, die Intellektualität der Moderne in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit auf die Spitze getrieben, aber nicht als reine Denkübung, sondern als gelebtes Denkkunstwerk. Darin liegt das Ungeheuere seines Philosophierens. Nietzsche war Analytiker mit schöpferischer Absicht. Er zergliederte, segmentierte, um neu zusammenzusetzen. Dabei zertrümmerte er weniger, als dass er haarklein abklopfte, was sich ihm an kulturellem „Bestand“ darbot. 

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Mag sein, dass verloren ist, wer Nietzsche folge, wie Thomas Mann meinte. Aber wer sich nicht einlässt auf ihn, nicht spürt, dass Nietzsche die Grenzen der kritischen Vernunft dargestellt hat, nicht fühlt, wie dieses aus Ekstase und Leiden entstandene Denken noch immer unter die Haut geht, der verschenkt eine beispiellose Denk- und Spracherfahrung. Das leiste sich, wer kann. 

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Wir postmodern Vergnügten, die wir glauben, uns einiges darauf zugute halten zu können, dass wir fröhlich mit Nietzsche Sein und Sinn dekonstruieren. Nietzsche mitten auf dem Jahrmarkt der Beliebigkeiten. Wer so denkt, dem fehlt gleichfalls das „Maß“. Denn bei einer solchen Bewertung Nietzsches gerät völlig außer acht, dass dieser Denker an der Leere der Wahrheit gelitten hatte, am Einbruch der Ironie in das tiefe Empfinden; dass er die Auflösung des Wahren in das freie Spiel der Metaphern (mit sich selbst und dem Denken) als Sprachgenuss und Pein erfuhr. Nietzsches Diagnosen schmerzen; seine Denk- und Sprachkunst verwandelte diesen Schmerz nicht; sie machte ihn quasi polyphon, aber eben auch schrill dissonant; durch sie spüren wir die Schwingungen und das Auftreffen jener Pfeile, die er wortgewaltig zu schleudern verstand – oft genug auf sich selbst. Mit jedem Buch schien er sich zu vervielfachen, wurde Dionysos, Zarathustra und Sebastian. Viele zu werden und doch unverwechselbar zu bleiben, auch das war eine wesentliche Seite von Nietzsches „Kunst“. 

Quelle: „Nietzsches Kunst: Annäherung an einen Denkartisten“, Rüdiger Görner, Insel Taschenbuch, 2000